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Johannes Calvin in Südkorea und bei Karl Barth
Eine Predigt von Tobias Kriener
Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juli 2009, gehalten in Hersel und Sechtem (Kirchenkreis Bonn)
Liebe Gemeinde!
Anfang Juni waren meine Frau und ich 14 Tage in Seoul, wo wir unsere Tochter besucht haben, die dort ein freiwilliges soziales Jahr verbringt. Ich habe n dieser Zeit u. a. das Nationalmuseum Koreas besucht – das drittgrößte Museum der Welt, wie es im Prospekt heißt. Ich habe nur einen Bruchteil der großartigen Ausstellungen gesehen – nämlich die Geschichtsabteilung. In dieser Abteilung gibt es eine große Wand mit einer Zeittafel. Diese Zeittafel hat zwei Hälften: Auf der einen Hälfte finden sich Daten aus der Geschichte Koreas; auf der anderen stehen Daten aus der Geschichte anderer Länder – vor allem natürlich aus China und Japan, den beiden großen Nachbarländern, die die Geschichte Koreas entscheidend geprägt haben. Aber es finden sich auch ein paar Daten aus Europa und Amerika: Das römische Reich kommt vor, die Entdeckung Amerikas, die französische Revolution, große Forscherpersönlichkeiten und anderes. Und unter diesen Daten findet sich auch das folgende: „1536 – Calvin's Reformation in Geneva“, zu Deutsch: Reformation Calvins in Genf.
Im ersten Moment war ich überrascht. Nicht darüber, dass ein Datum der Reformationsgeschichte erwähnt wird. Die Reformation war zweifellos ein epochales Ereignis, das die Weltgeschichte entscheidend beeinflusst hat. Aber wenn ich an Reformation denke, dann denke ich natürlich an 1517 – den Thesenanschlag Martin Luthers am 31. Oktober, der ja bei uns auch der Gedenktag an die Reformation – der Reformationstag ist. Calvin würde mir nicht in den Sinn kommen – obwohl ich selber reformiert bin und daher immerhin weiß, dass es einen wichtigen Menschen namens Johannes Calvin gegeben hat, der für den reformierten Zweig der Reformation eine wichtige Persönlichkeit gewesen ist – im Unterschied zu vermutlich den allermeisten Mitgliedern unserer Gemeinde, die von Calvin nie etwas gehört haben (Anwesende selbstverständlich ausgenommen ...). Beim Namen Calvin bzw. dem englisch ausgesprochenen „Calvin“ denken manche – in erster Linie wohl die Jüngeren - vermutlich an die Comicserie „Calvin & Hobbes“; Modebewussten Frauen ist vielleicht der Modemacher Calvin Klein ein Begriff. Aber der Genfer Reformator Johannes Calvin ist bei uns weithin unbekannt.
Dass – englisch ausgesprochen – Calvin ein in Amerika recht gebräuchlicher Jungenname ist, ist allerdings schon ein Hinweis darauf, dass Calvin anderswo als bei uns in Deutschland eine sehr viel bekanntere Persönlichkeit ist. Und das liegt daran, dass evangelische bzw. protestantische Kirche in den USA eher selten lutherische Kirche ist, sondern sehr viel häufiger presbyterianische Kirche – also Kirche, die vom reformierten Zweig der Reformation herkommt; Kirche, die sehr viel mehr von Johannes Calvin geprägt ist als von Martin Luther – und deren Mitgliedern das auch klar war, weshalb eben beispielsweise der Name „Calvin“ sich in den USA und anderen Ländern einer gewissen Beliebtheit erfreut.
Und was Südkorea betrifft: Die dortigen evangelischen Kirchen sind weit überwiegend presbyterianische Kirchen, denn sie sind von Missionaren aus den USA gegründet worden. Neben der katholischen Kirche sind sie die bedeutendsten Kirchen in Südkorea. Das Christentum ist heute die wichtigste Religionsgemeinschaft in Korea – wichtiger noch als der über viele Jahrhunderte vorherrschende Buddhismus. Und deshalb ist die Reformation für Korea ein bemerkenswertes Datum der Weltgeschichte – und zwar die Reformation, diejenige Neuordnung der Kirche, wie sie Calvin ab 1536 in Genf gestaltet hat.
Nun gut – es schadet sicherlich nicht, sich das klar zu machen. Wobei ebenso klar ist, dass natürlich Martin Luther eine viel größere Bedeutung für uns hier in Deutschland hat und haben wird, vor allem weil er ja die Bibel ins Deutsche übersetzt hat. Aber es ist immer gut, dass wir uns hier in Deutschland ab und zu vor Augen halten, dass wir nicht der Nabel der Welt sind – noch nicht einmal der Nabel der evangelischen Welt ...
Und dann schadet es sicher auch nicht, sich darüber zu informieren, wer dieser Johannes Calvin gewesen ist; woher er kam; wo er gewirkt hat; was er hinterlassen hat. Dazu – wie am Anfang des Gottesdienstes schon gesagt – steht einiges an Informationen im letzten Gemeindebrief. Ich will das nicht wiederholen, um die nicht zu langweilen, die es gelesen haben. Nebenbei: Sollten Sie es noch nicht gelesen haben, dann können sie das immer noch nach holen. (Und falls Sie den Gemeindebrief nicht mehr finden sollten: Wir haben am Eingang noch Exemplare liegen – Sie können sich gerne noch mal einen mitnehmen ...)
Ich möchte Ihnen vielmehr erzählen, warum ich Johannes Calvin schätze. Und das, obwohl ich weiß, wie umstritten er war und ist – ja, wie unhaltbar manches ist, was er in seinem Leben getan hat. An erster Stelle ist da natürlich seine Beteiligung am Prozess gegen Michael Servet in Genf zu nennen, der damit endete, dass Servet auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Das wird Calvin zum Vorwurf gemacht – und das mit vollem Recht. Denn selbst wenn man in Rechnung stellt, dass vor 500 Jahren andere Maßstäbe galten als heute, so ist doch die aktive Beteiligung Calvins am Zustandekommen des Todesurteils gegen Servet nicht vereinbar mit dem, was wir vorhin in der Evangeliumslesung gehört haben: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36) Calvin hat in diesem Fall Unrecht getan – mehr noch: Er hat das Evangelium missachtet.
Ich habe im letzten halben Jahr mehrere neue Bücher über Calvin gelesen, um mich mit dieser Person vertraut zu machen. Und ich muss gestehen: Auch wenn ich meine, dass man ihn vor überzogener Kritik in Schutz nehmen muss – ich denke da z.B. an das Buch von Stefan Zweig, in dem er Calvin als einen Vorläufer Hitlers, als einen totalitären Diktator darstellt -, auch wenn manche Kritik an Calvin ungerecht ist – ein Sympathieträger ist er für mich auch bei meiner neuerlichen Beschäftigung mit ihm nicht geworden.
Das ist aber auch nicht entscheidend; denn für mich gehört zum Protestantisch-Sein dazu, dass wir Evangelischen eben keinen Heiligenverehrung betreiben, sondern auch die wichtigsten Persönlichkeiten unter unseren Vätern und Müttern im Glauben kritisch betrachten können; dass wir uns nicht sklavisch an ihr mehr oder eben auch weniger gutes Vorbild halten, sondern in protestantischem Geist weiter gehen – selbst über Johannes Calvin hinaus – ja, selbst über Martin Luther hinaus.
Warum schätze ich Calvin dennoch – oder besser: Was schätze ich an Calvin dennoch, weil ich meine, dass es für mich auch heute noch wegweisend sein kann?
Bei mir hängt das mit Karl Barth zusammen – einem Theologen aus dem vorigen Jahrhundert, den vermutlich auch nicht allzu viele evangelische Christen noch kennen. Ganz kurz zusammengefasst: Karl Barth war es, der – damals übrigens beruflich tätig als Theologieprofessor in Bonn – nach der Machtergreifung der Nazis zum Kopf der Bekennenden Kirche wurde und damals maßgeblich dazu beitrug, dass jedenfalls nicht alle Evangelischen in Deutschland auf Hitler herein fielen, sondern sich der Menschenverachtung der Nazis verweigerten.
Karl Barth hat eine entscheidende Wende in seinem Leben erlebt: Das war der Ausbruch des 1. Weltkriegs. Er war damals entsetzt, dass seine theologischen Lehrer, bei denen er gelernt hatte, den Krieg begeistert begrüßten. Da begriff er, dass an ihrer Lehre irgendetwas grundsätzlich nicht stimmte. Was das war – das erkannte er, als er den Römerbrief des Paulus erneut und sehr intensiv durch las: Nämlich, dass Gott nicht vereinnahmt werden darf für menschliche Zwecke.
Selbstverständlich nicht für den Krieg – das „Gott ist mit uns“ auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten war eine ganz offensichtliche Gotteslästerung. Aber der Missbrauch Gottes durch uns Menschen kann sehr viel subtiler, sehr viel feiner daher kommen – am schwersten zu durchschauen und deswegen für Barth am gefährlichsten in frommer Verkleidung, in Gestalt der Religion – d.h. in Gestalt der Überhöhung menschlicher Wünsche und Bestrebungen zu angeblich göttlichem Willen. Das hat Barths Theologie immun gemacht gegen die religiöse Verführung durch die Naziideologie.
Karl Barth nun hat Calvin hoch geschätzt – weil er an Calvin beobachtet hat, dass dieser so konsequent wie kaum ein anderer Theologe die Souveränität Gottes – die Unabhängigkeit und Freiheit Gottes gegenüber Wunschbildern der Menschen von ihm - durchdacht und in das Zentrum seiner Theologie gestellt hat. Barth hat in Vielem über Calvin hinaus gedacht – er war alles andere als jemand, der sklavisch Calvin nur wiederholt hätte. „Sei ein Mann und folge mir – nicht!“ war der Rat, den Barth seinen Studenten mitgegeben hat. (Studentinnen hatte er nur sehr wenige, weil damals Frauen noch nicht Pfarrerin werden durften ...) So hat Barth es seinerseits mit Calvin gehalten. So sollen auch wir es mit Calvin halten.
Wenn aber Karl Barth Calvin so hoch geschätzt hat, dann ist für mich klar: An diesem Calvin muss etwas dran sein. Und zwar ist bei ihm – soweit ich es derzeit überblicke - genau dies zu lernen, wie Calvin es in klassischer Schlichtheit und Schönheit in der 1. Frage des Genfer Katechismus formuliert hat: „Was ist der Sinn des menschlichen Lebens? Antwort: Die Erkenntnis Gottes, unseres Schöpfers.“
Dazu wäre viel zu sagen. Für heute nur so viel: Erkenntnis meint natürlich nicht bloß das Ergebnis einer Denkleistung. Erkenntnis ist nicht nur Sache des Kopfes, sondern betrifft ebenso das Fühlen und das Handeln. Erkenntnis Gottes zielt darauf, ihn nicht zu verwechseln und zu vermischen mit den eigenen Wunschvorstellungen. Erkenntnis Gottes bedeutet in letzter Konsequenz die Anerkenntnis, dass Gott allein Ehre zukommt. Denn wo das vergessen wird – wo wir anfangen, Anderes und Andere zu verehren – weil wir es oder sie mit Gott verwechseln -, da verfehlen wir Gott – und damit verliert unser Leben seinen Sinn.
Davor bewahrt zu werden – dabei kann Calvin auch heute noch eine Hilfe sein. Darum lag mir daran, heute, kurz vor seinem 500. Geburtstag, an ihn zu erinnern.
Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juli 2009, gehalten in Hersel und Sechtem (Kirchenkreis Bonn)
Pfr. Dr. Tobias Kriener, Bonn